Notstand der Demokratie
Der Protest gegen die Notstandsgesetze und die Frage der NS-Vergangenheit.
Klartext Verlag, Essen 2008
Notstandsgesetze und NS-Vergangenheit
Von Anne Chr. Nagel, Gießen
Am 30. Mai 1968 verabschiedete der Bonner Bundestag die sogenannten Notstandsgesetze. Damit war ein mehr als zehn Jahre währender Konflikt um die Schaffung einer Notstandsverfassung beendet worden, an dessen Verlauf ein Teil der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit ungewöhnlich großes Interesse genommen hatte. Im Kern ging es bei dieser Sondergesetzgebung um die Handhabung der Regierungsgewalt im Verteidigungs- und Katastrophenfall, für die das Grundgesetz keine klare Regelung bereithielt. Die rasch wachsende Gegnerschaft in den politischen Parteien, Gewerkschaften, Medien und der Studentenschaft befürchtete vor allem eine Einschränkung der bürgerlichen Grundrechte. Die Spiegel-Affäre hatte derlei Befürchtungen genährt und dazu das generelle Misstrauen am Demokratieverständnis der konservativen Regierung geschürt. Erinnerungen an die Notverordnungspolitik der Weimarer Republik wurden evoziert und bekräftigten die rigorose Abwehrhaltung.
Hintergrund und Entwicklung dieses Konfliktes sind seither wiederholt und in verschiedenen Kontexten behandelt worden. Die vorliegende, auf einer Bochumer Magisterarbeit basierende Studie konzentriert sich auf einen bislang weniger beleuchteten Aspekt, nämlich auf die Rolle einiger Intellektueller in diesem Streit. Anhand von fünf prominenten Figuren - Wolfgang Abendroth, Karl-Dietrich Bracher, Eugen Kogon, Helmut Ridder und Jürgen Seifert fragt Boris Spernol nach den individuellen Motiven, die ihrem damaligen Engagement zugrunde lagen. Methodisch wurde ein geistesgeschichtlicher Zugang gewählt, als Quellen dienten das zeitgenössische Schrifttum, die Unterlagen des Kuratoriums »Notstand der Demokratie« sowie die betreffenden Bundestagsprotokolle.
Gemeinsam war den hier vorgestellten und analysierten Intellektuellen die Überzeugung, dass die damalige Situation der Bundesrepublik politisch mit der Spätzeit der Weimarer Demokratie vergleichbar sei. Dies war die Folie, vor der sie ihre Argumente entwickelten, um ein erneutes Übermaß an staatlicher Gewalt in Deutschland von vornherein zu verhindern. Karl-Dietrich Bracher als derjenige, der sich wissenschaftlich am intensivsten mit dem Niedergang der Weimarer Republik befasst hatte, betrachtete es als seine Pflicht als »politischer Professor«, vor der Wiederholung damaliger Fehler zu warnen. Für Eugen Kogon und Wolfgang Abendroth spielten darüber hinaus ihre Erfahrungen als Verfolgte des Nationalsozialismus eine maßgebliche Rolle. Während Kogon die bundesrepublikanische Gesellschaft auf den Weg in den Überwachungsstaat wähnte, fürchtete Abendroth mit der Schaffung einer Notstandsgesetzgebung den »schleichenden Staatsstreich« (56), ja mehr noch: die »Vorbereitung auf den ›totalen Krieg‹« (57). Es besteht wohl kein Zweifel, dass sie alle diese Gefahren für real begründet hielten und sich als Vertreter einer »kritischen Öffentlichkeit« zum Widerstand aufgefordert fühlten. Allerdings sollte Bracher in einem Interview 30 Jahre später einräumen, als WeimarForscher die »historische Belastung« (46) vielleicht überbewertet und damit die tatsächlichen Gefahren für die Bundesrepublik überschätzt zu haben.
Spernol hat eine flüssig verfasste Studie vorgelegt, die sachlich und mit reichlich Sympathie für seine »Helden« über den »gefühlten« Notstand der Demokratie informiert
In: Deutschland Archiv 1/2009, S. 179.
»Erhellender Überblick«
Von Natalie Wohlleben
Seit dem Ende der 50er-Jahre plante die Bundesregierung, das Grundgesetz mit Artikeln einer Notstandsverfassung zu ergänzen. Gewährleistet werden sollte die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen. Vielfach wurde dies damit begründet, dass so die alliierten Rechte in Deutschland abgelöst werden könnten. Das alliierte Notstandsrecht bildete nach Ansicht von Spernol allerdings nur einen willkommenen Anlass, die Schließung einer verfassungsrechtlichen Lücke zu rechtfertigen. Diese Pläne stießen auf heftigen Protest, vor allem vonseiten der Gewerkschaften, der Studentenbewegung und zahlreicher Professoren. Letztere stehen im Mittelpunkt dieser Studie.
Spernol zeigt an den Stellungnahmen von Karl Dietrich Bracher, Eugen Kogon, Wolfgang Abendroth, Helmut Ridder und Jürgen Seifert die inhaltliche Dimension dieses Protestes auf. Gemeinsam war ihnen – eingedenk des Scheiterns der Weimarer Republik und des Notstandsartikels 48 der damaligen Verfassung – die Sorge um die Demokratie. Die Verhältnisse in der noch jungen Bundesrepublik schienen ihnen keinesfalls gefestigt. Seifert sah in der Verfassung denn auch „kein Ordnungsstatut, sondern [das] Produkt politischer und sozialer Machtkämpfe’“ (72). Abendroth „betrachtete das Notstandsgesetz als Instrument des ‚schleichenden Staatsstreiches’, eingesetzt sobald die ‚Stabilität der gegenwärtigen Machtverhältnisse bedroht erscheint’“ (56).
Der Autor stellt diese aus heutiger Sicht vielleicht zu drastisch erscheinenden Sorgen in den Kontext ihrer Zeit – so kurz nach Kriegsende, Korea-Krieg und Kuba-Krise erschien der Friede ein unsicherer Zustand; die politische Kultur unter Adenauer war restaurativ, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit stand im Wesentlichen noch aus. Und angesichts von Ereignissen wie der Spiegel-Affäre und dem Tod Ohnesorgs werden die Bedenken der Gegner der Notstandsgesetze nachvollziehbar. Spernol zeigt in diesem insgesamt erhellenden Überblick, dass die damalige Debatte „Projektionsfläche und Symptom zugleich für ein ausgeprägtes Misstrauen gegen die politischen Institutionen war“ (89).
In: ZPol, online am 11.09.2008
Notstand der Demokratie
Von Riccardo Bavaj, St. Andrews
Was heute als Ausfluss hysterischer Überspanntheit erscheinen mag, entsprang in den 1960er-Jahren vielfach der nüchternen Analyse von Gegenwart und Vergangenheit. Die Horrorszenarien eines totalitären Überwachungsstaates, die durch die Planungen für eine Notstandsgesetzgebung hervorgerufen wurden, waren keine Hirngespinste hypersensibler Paranoiker, sondern speisten sich, durchaus verständlich und nachvollziehbar, aus den Erfahrungen der jüngsten Geschichte sowie den kaum übersehbaren mentalen und personalen Kontinuitäten, die wie dunkle Schatten aus dem „Dritten Reich“ in die Bundesrepublik hineinragten. Das ist die zentrale These des auf einer Magisterarbeit basierenden Buches von Boris Spernol, der sich gewissermaßen an einer Historisierung vermeintlicher Hysteriker versucht hat.
Spernols Untersuchungsobjekt sind in erster Linie Hochschullehrer. Denn während vor mehr als 20 Jahren der Bonner Zeithistoriker Michael Schneider den Schwerpunkt auf die Entscheidungs- und Meinungsbildungsprozesse in der SPD und den Gewerkschaften gelegt hatte[1], blieb der Anteil von politisch engagierten Hochschullehrern an der Debatte um die Notstandsgesetze bislang unterbelichtet. In fünf Einzelanalysen prominenter „Notstandsgegner“ versucht Spernol den Motiven der Katheder-Kassandren nachzuspüren und aus ihren Debattenbeiträgen zentrale Begrifflichkeiten und Argumentationsmuster herauszudestillieren. Gestützt auf die Auswertung einschlägiger Zeitungen und Zeitschriften („Frankfurter Hefte“, „Blätter für deutsche und internationale Politik“ etc.), befasst er sich mit dem politisch-professionellen Selbstverständnis der ausgewählten Personen ebenso wie mit ihren Gegenwartsanalysen und Zukunftserwartungen.
Ohne die Auswahl näher zu begründen, hat der Autor folgende fünf Hochschullehrer ins Auge gefasst: die Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher (geb. 1922), Eugen Kogon (1903–1987), Wolfgang Abendroth (1906–1985) und Jürgen Seifert (1928–2005) sowie den Gießener Verfassungsrechtler Helmut Ridder (1919–2007). Letzterer war als Sprecher des im September 1966 gegründeten Kuratoriums „Notstand der Demokratie“ (und Vorsitzender des Arbeitsausschusses) zweifellos einer der exponiertesten Kritiker. Die politisch engagierten Professoren argumentierten in der Regel auf der Folie des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie und beurteilten die Gesetzentwürfe vor dem Hintergrund dessen, was A. Dirk Moses vor einigen Jahren das „Weimar-Syndrom“ genannt hat – also vor dem Hintergrund einer bestimmten Deutung vom Untergang der Weimarer Republik.[2] Dass „Weimar“ in der Debatte um die Notstandsgesetze als Argument so präsent war [3], spiegelte ein tiefes Unbehagen an der „unfertigen“, ungefestigten Republik wider. Angesichts der Erblast des Nationalsozialismus und der beklemmend-bedrohlichen Kontinuitäten der jüngsten deutschen Geschichte fehlte es vor allem an einem: an Grundvertrauen.[4]
„Politische Professoren“ wie Bracher und Ridder (die in den 1960er-Jahren noch an einem Strang zogen) waren sogar von der geistigen Kontamination der deutschen Geschichte seit Beginn des 19. Jahrhunderts überzeugt. Nicht nur gegen ein paar Vorgestrige in Parlament und Ministerialbürokratie galt es Widerstand zu leisten; man meinte einer jahrhundertealten Tradition deutscher Geschichte trotzen zu müssen: der „deutschen Sonderideologie“ vom Staat. Was an illiberalen, staatsverherrlichenden Traditionen deutscher Geistesgeschichte schon einmal (ja so oft) ins Verderben geführt habe, könne leicht auch ein weiteres Mal im Desaster enden. Das war die Furcht vieler Hochschullehrer, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, durch politische Bildungsarbeit und die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit an der „Demokratisierung des Staates“ (Bracher) mitzuwirken. Ihre Mission einer tiefgreifenden Demokratisierung und Liberalisierung der politischen Kultur der „zweiten Republik“ sahen sie durch die Entwürfe einer Notstandsgesetzgebung konterkariert, die wie ein Damoklesschwert über der Bonner Demokratie zu hängen drohte. Hinzu kam, dass markige Worte von Seiten der Politik wie das Diktum des Innenministers Gerhard Schröder (CDU) von der „Ausnahmestunde“ als „Stunde der Exekutive“ (1960) nicht gerade dazu beitrugen, düstere Vorahnungen zu vertreiben. Vielmehr ließen sie das „bedenklich Vergleichbare“ (Bracher) zwischen Bonn und Weimar umso stärker hervortreten.
Eindringlich warnte Bracher vor einer möglichen Krisensicherung der Bonner Republik mittels „Suspendierung der Demokratie“, gelange man auf diese Weise doch wieder zu der „fatalen Scheidung zwischen einer Demokratie für Schönwetterzeiten und einem transdemokratischen Staat darüber“. Die Notstandsgesetze könnten durchaus als „Hebel für pseudo-legalen Staatsstreich und diktatorische Herrschaft“ dienen. Kogon beschwor die Gefahr einer „Militarisierung der Gesellschaft“ herauf und sah schon die Konturen eines „milden ‚1984‘“ am Horizont, also „die Verwandlung des Geistes der Freiheit in den Geist der ‚Ordnung‘“. Für Abendroth eröffneten die Notstandsgesetze die Möglichkeit, die „soziale Demokratie der Verfassungsurkunde rechtstechnisch reibungsloser in eine autoritäre oder faschistoide Staatsform umzuwandeln“. Und Ridder malte das Schreckgespenst eines „totalitären Staates“ an die Wand. Durch Ereignisse wie die Spiegel-Affäre zusätzlich alarmiert, deutete der für seine Polemiken berüchtigte Verfassungsrechtler die Notstandsgesetze als die „vorletzte oder letzte Etappe“ einer sich seit Jahren vollziehenden „Erosion der zweiten deutschen Demokratie“. Dagegen nahmen sich die Bedenken von SDS-Mitglied und IG-Metall-Mitarbeiter Seifert eher moderat aus.
In den Bedrohungsszenarien der „Notstandsgegner“, so resümiert Spernol, manifestierte sich ein „ausgeprägtes Krisenbewusstsein“, das „Unbehagen an einer unheilvollen Vorsorge“ (S. 92). Dieses Unbehagen wurzelte im Erfahrungsraum der Kritiker sowie in deren Bewusstsein für die mentalen und personalen Kontinuitätslinien, welche die Bundesrepublik mit der NS-Zeit unweigerlich verbanden. Das vermag der Autor im Großen und Ganzen plausibel zu machen. Sicherlich hätte die generationen- und erinnerungsgeschichtliche Analyse der fünf Public Intellectuals sorgfältiger ausfallen, der biographische Hintergrund gründlicher ausgeleuchtet werden können. So manche Frage muss denn auch offen bleiben, wie zum Beispiel diejenige nach den Gründen von Brachers „Meinungsschwenk“, der ihn 1967/68 doch noch zum Befürworter der Notstandsgesetze machte. Spernol verweist auf Brachers Bemühen, sich von den Zielen einer radikalisierten Studentenbewegung zu distanzieren, aber auch auf die Modifizierung der Gesetzentwürfe selbst. Solche Vermutungen erscheinen einleuchtend, doch bleibt eine Klärung dieser und weiterer Fragen der künftigen Forschung vorbehalten. Alles in allem gibt Spernols Buch, das viele ausführliche Zitate enthält, einen zuverlässigen Überblick zum Engagement prominenter Hochschullehrer in der Debatte um die Notstandsgesetze.
Anmerkungen:
[1] Michael Schneider, Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze. Sozialdemokratie, Gewerkschaften und intellektueller Protest (1958–1968), Bonn 1986.
[2] A. Dirk Moses, The „Weimar Syndrome“ in the Federal Republic of Germany, in: Stephan Loos / Holger Zaborowski (Hrsg.), Leben, Tod und Entscheidung, Berlin 2003, S. 187-207.
[3] Siehe dazu auch Jörg Requate, „Weimar“ als Argument in der Debatte um die Notstandsgesetze, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten. „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 311-334; Bernd Stöver, Die Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 2002, S. 84.
[4] So die zentrale These von A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007.
In: H-Soz-u-Kult, 02.10.2008
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-008
Die Schatten der Erinnerung
Blick auf die deutschen Proteste
Zur Erinnerung an "1968" gibt es eine Reihe von Rechtfertigungsschriften [...]. Dazu zählt die Arbeit von Boris Spernol
über die Notstandsgesetze, die eine Art Kristallisationspunkt der Protestwelle bildeten. Die Schrift kommt aber nicht rechthaberisch daher,
sondern beleuchtet die große Sorge von Gewerkschaften, Professoren und Studenten wegen einer möglichen Wiederkehr autoritärer
Verhältnisse. In der Tat hatten die ersten Entwürfe des Innenministers Gerhard Schröder eine starke obrigkeitsstaatliche Tendenz. Ihm kam
es, im Sinne Carl Schmitts, auf die "Stunde der Exekutive" an. Konrad Adenauer passte die ganze Richtung nicht, schon 1956 lehnte er
Schröders Entwurf ab. Auch war er nicht davon überzeugt, dass es hier um Souveränitätsrechte der Bundesrepublik ging. Erst in den
sechziger Jahren befand dann eine Große Koalition endgültig darüber. Aber die kritische Intelligenz, die Gewerkschaften und
Studentenverbände machten Druck - und milderten die Gesetzesvorlagen ab. w.b.
In: Stuttgarter Zeitung, 30.5.2008