Michael Lütge                                                                                                          15.7.2024

Meditation über Kohelet 3,1-13

1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;

3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. 9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. 10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, daß sie sich damit plagen. 11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur daß der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, daß es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da ißt und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.

Liebe Leser,

es ist die Perspektive des gebildeten Monarchen, die hier spricht. Die Resignation eines, der mit den besten Vorsätzen zu regieren anfing und immer mehr erkennen mußte, daß selbst die Königsmacht ihn nicht befähigt, soviel Gerechtigkeit zu schaffen, daß alles gut wird, so wie Gott im Schöpfungsmythos sagen kann: Es ist sehr gut geworden. Nein, es war nie gut, von Anfang an war die Schöpfung nicht gut, sondern Beißen und Gebissenwerden.

Betrachten wir die Paare des Tuns, so beginnt es mit Gutem versus Schlechtem, also Geburt – Tod, Pflanzen – Ausreißen. Dann werden die Polaritäten vertauscht: Töten – Heilen, Abbrechen – Bauen, Weinen – Lachen, Klagen – Tanzen. Dieser Tausch zu Schmerzlichem versus Lebenschaffendem passiert noch öfter im Text.

Worüber ich mein Leben lang hinweggelesen habe, wenn ich diesen Text am Sarg eines Gemeindeglieds gelesen habe, ist die Stelle mit dem Steinewerfen und Steinesammeln. „Das Leben des Brian“ zeigt den Sitz im Leben des Steinewerfens: Es ist eine gemeinschaftliche Form der Hinrichtung eines Mitbürgers, wo jeder – Weibsvolk ausgenommen – Henker spielen darf. Damit wird die Verantwortung für das Töten eines Menschen geteilt auf viele, keiner muß sich als Mörder fühlen. Jeder ist nur Mitläufer gewesen, der hinterher zu seiner Zeit, wenn der Deliquent liquidiert ist, die tödlichen Steine wieder aufsammeln darf. Vorher schon in diesem Text lasen wir das Paar „Töten – Heilen“, es ist also keineswegs weit hergeholt, beim Steinewerfen nicht an den fröhlichen Landmann zu denken, der Steine vom Acker an dessen Rand wirft, denn das wäre ja zugleich Steinesammeln. Es geht um das Töten durch Steinwurf. Die Steinigung gehört also wie selbstverständlich zu den normalen Tätigkeiten des jüdischen Lebens dazu wie all die anderen schönen und anstrengenden Dinge des gemeinsamen Lebens. Daß es ein 5. Gebot gibt „Du sollst nicht töten“, an das sich niemals jemand gehalten hat, bleibt frommer Wunsch, weil es massenhafte Ausnahmen gibt und im Erfinden von Argumenten für diese Ausnahmen die Menschen eine faszinierend perfide Phantasie aufbringen.

Werfen wir einen kleinen Blick auf das jüdische Leben des heutigen Israel. Es sind nicht mehr Steine, die geworfen werden, sondern Bomben auf Gaza, sauber und effektiv, kaum ein Haus der Millionenstadt steht noch, alles ist verwandelt zur Steinwüste und deutsche Waffen aus dem Siegerland werden als Panzerfäuste eingesetzt, um restliche Häuser zu zerbröseln. Über die 40.000 ermordeten Zivilisten, meist Kinder und Frauen, will ich nicht sprechen. Hier geht es nur um Steine.

Perfide auch, daß die Hamas bereit ist, auch 100.000 Frauen und Kinder über die Klinge springen zu lassen, damit sich die Weltgemeinschaft noch stärker gegen Israel stellt. Und Israel hat auch dies auf seiner Agenda. „Nur ein toter Araber ist ein guter Araber.“ Und das juckt die Orthodoxen dort kein bißchen, sie glauben daran, daß Frieden einkehrt, wenn alle ca. 70.000 Hamaskrieger ermordet sind, egal, wieviel Beifang, wieviel Zivilisten ermordet werden. Mit Stumpf und Stil ausrotten, das haben sie von uns Deutschen gelernt. Sie müssen ihren Krieg nicht einmal heilig nennen, sie morden einfach beherzt drauflos. Es ist eben Zeit zum Steinewerfen. Zum Völkermord.

Die Opfer werden die neuen Täter, das zeigen sozialpsychologische Untersuchungen über schwarze Pädagogik. Wir dürfen also annehmen, daß Israel gerade ein riesiges Arsenal von neuen Terroristen heranzieht, möglicherweise größer als die Hamas je gewesen ist. Das Steinewerfen wird für die Zukunft fortgeschrieben und alles Nötige getan, damit dies noch schlimmer weitergehen kann. Die Weltgemeinschaft muß tatenlos zusehen, so wie sie es seit 1946, seit der Naqba, der brutalen Vertreibung von fast 800.000 Palästinensern von ihren kleinen Bauernhöfen in Palästina, immer schon machen mußte und ihre fast 800 Resolutionen im Sicherheitsrat der UNO oder ihrer Generalversammlung keine einzige Linderung der Unterdrückung der Palästinenser gezeitigt haben.

„Lasset uns danksagen dem Herren unserm Gotte, das ist würdig und recht. Wahrhaft würdig und recht, billig und heilsam ist´s, daß wir dir allenthalben Dank sagen“. So die lutherische Abendmahlsliturgie. „Nun ist groß Fried ohn´ Unterlaß, all Fehd hat nun ein Ende.“ Muß einem nicht bei diesen Gesänge der Ton in der Kehle gefrieren? Wie kann man in unseren Kirchen noch so einfältig und kontrafaktisch jubilieren, während das Volk Gottes, die Juden, ihre Menschenschlachtaktionen intensivieren mit deutschen Waffen? Augen zu und durch? Steinewerfen hat seine Zeit. Kriege haben ihre Zeit, manchmal dreißig Jahre. In der Tora steht als Racheanweisung: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Die bisherige Rachepraxis Israels gegen Palästinenser war regelmäßig im Schnitt 15 Augen für ein Auge, die Vergeltung war immer maßlos. Von daher läßt sich auch verstehen, aber keinesfalls gutheißen, daß die Hamas 2500 Partygäste ermordet hat. Es waren die Dimensionen, in denen Israel mehrfach in den letzten Jahrzehnten Gaza bombardiert hatte. Das wurde in Deutschland stets sehr schnell vergessen gemacht wie die aggressive israelische „Siedlungspolitik“ im Westjordanland überhaupt, die eine massive Vertreibungspolitik genannt werden darf.

Daß der Ukrainekrieg jetzt über 2 Jahre geht und kein Ende in Sicht ist, auch nicht mit den besten deutschen Waffen, Wunderwaffen, daß Rußland gelernt hat, diese Waffen zu übertölpeln mit iranischen Drohnen, - es wird keinen Punkt geben, an dem die Ukraine so stark geworden ist, daß sie in Verhandlungen Bedingungen stellen könnte. Sie hat diesen Krieg schon lange verloren und findet nicht die Stärke, zuzugeben, daß sie ihre Territorien niemals wieder wird zurückgewinnen können. Und so setzt sich das Schlachten fort, besinnungslos und aussichtslos. Unser Mythos in den Medien sagt, Putin ist nicht verhandlungsbereit, und daher dürfen wir es auch nicht sein. Eben Zeit zum Bombenwerfen wie seit 2014 beidseitig üblich trotz der Minsker Verträge. 30% Ukrainer sympathisieren mit dem damals vom rechtsnationalen Andrij Bilezkyj gegründeten Asov-Regiment, sind so nationalistisch wie die AFD, die Waffenlieferungen ablehnt. Die Korruption und die Drahtzieherrolle der ukrainischen Oligarchen ähnelt der in Rußland. Das Land ist weit entfernt von demokratischen Verhältnissen, die eine Mitgliedschaft in EU und NATO rechtfertigen würden. Der Krieg ist ein Versuch der USA, einen Brückenkopf zur Umzingelung Rußlands zu instaurieren. Zeit zum Steinewerfen. Die Rüstungsindustrie reibt sich die Hände. In jedem Land. Der Krieg dauert inzwischen fast 2,5 Jahre und ein Ende ist überhaupt nicht in Sicht.

Jetzt aber wird Biden dement und Trump nach dem überstandenen Attentat vom 14.7.24 so verehrt, daß er der klare Wahlsieger sein wird und dann den Geldhahn für die Ukraine zudreht und diese zwingt, Gebiete an Rußland abzutreten, die sowieso überwiegend russisch besiedelt und daher von der ukrainischen Administration wirtschaftlich völlig vernachlässigt und ausgeblutet waren. Ausgerechnet der schreckliche Trump wird dann zum Friedensbringer…

Es gab mal eine Zeit, wo die Staatsräson lautete, von deutschem Boden sollte nie wieder ein Krieg ausgehen. Jetzt gilt das nicht mehr, unser Land gehört zu den wichtigsten Waffenlieferanten der derzeitigen Kriege. Und gerade die Partei, die einst für Ökologie und Frieden eintrat, ist jetzt die mit den meisten Befürwortern der intensiven Waffenlieferungen. Ihr Boykott von russischem Gas hat Russland neue Absatzmärkte im Osten erschließen lassen, die weitaus zuverlässiger für die Zukunft sind. Es war keine Sanktion gegen Putin, sondern geradezu eine Erleichterung für die russische Sicherheit des Absatzmarktes. Dafür konsumieren wir nun Frekkinggas aus den USA, was früher eine Horrorvorstellung war. Die Grünen haben alle ihre einstigen Ideale verraten. Dafür haben sie auch fast die Hälfte ihrer Wähler verloren.

Daß alles seine Zeit hat, seine richtige Zeit, heißt auch, man kann historische Chancen verpassen. So ist inzwischen der Kipp-Punkt der Klimaveränderung fast überschritten und wir haben die Möglichkeiten einer lebenswerten Zukunft für die Kinder der Welt gründlich vertan und hinterlassen ihnen eine Welt voller Katastrophen, die wir im eigenen Land allmählich auch schon erleben, ohne daß dies Konsequenzen für politisches Handeln hätte. Wir steuern sehenden Auges in die ökologische Katastrophe des Erdballs und unsere Jugend ist durch Tictoc bereits so verblödet, daß sie mehrheitlich rechte Parteien wählt, wenn man sie läßt.

Ich wünsche mir sehr, daß die Zukunft mich mit meinen düsteren Prognosen korrigiert. Daß einmal alles Fleisch Gott schauen kann und wird. Es ist eine zarte Hoffnung. Der Verstand sagt: Vergiß es. Amen.