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2015-11-15 Workshop "Kohärente Führung"

Inhaltsverzeichnis

1. Kohärente Führung

  1. Distanz
    • Es gibt bei der Tanzhaltung grob gesagt drei Distanzen, eng, mittel und weit.
      • Eng: Brust an Brust
      • Mittel: Geringer bis mittlerer Abstand. Die linke Hand der Frau liegt auf dem Rücken des Partners. Abstand auf der rechten Seite kann bei starken Beschleunigungen oder Neigung (Volcada) auf die Frau zu nur über den Kontakt seines Unterarms mit ihrem Oberarm hergestellt werden
      • Weit: Mittlerer bis weiter Abstand. Die linke Hand der Frau liegt an der Seite des Oberarms des Partners mit dem Daumen vorne auf dem Oberarm. Damit kann sie den Abstand auch bei starken Beschleunigungen oder Neigung auf der rechten Seite sicherstellen. Bitte die Hand nicht vorne auf den Oberarm legen, das kann ein ein Gefühl der Ablehnung vermitteln. Außerdem kann die Frau nicht gut auf Zug reagieren.
    • Ich empfehle in der Regel die enge und die weite Distanz, die mittlere Distanz ist problematisch, weil

      • der Abstand auf der rechten Seite schwer herzustellen ist, und
      • man auch so ein komisches Gefühl von wegen nichts Halbes und nichts Ganzes bekommen kann, so als wenn die Frau zwar generell gerne eng tanzt, dieser Partner ihr aber unangenehm ist.

      Die mittlere Distanz kann angemessen sein als Zwischenstation zwischen eng und weit und wenn man Bewegungen aufeinander zu vermeidet und eher mit einer leichten Colgada-Neigung tanzt.

    • Ich gehe ab jetzt von der weiten Tanzhaltung aus.
  2. Übung: Volcada. Die Frau bleibt auf ihren Füßen am Platz stehen, der Mann kippt sie nach vorn. Hier ist der linke Arm der Frau wichtig, um den Abstand zu halten.
  3. Spannung
    • Die Frau sollte die Spannung des Mannes widerspiegeln, damit sie die Spannung hat, die er aktuell für die Führung braucht. Das bedeutet umgekehrt, dass der Mann die eigene Spannung so variieren muss, wie er sie bei der Frau braucht.
    • Das betrifft die Arme und den ganzen Körper, damit die Führungsimpulse auch in den Füßen der Frau ankommen.
    • Die Spannung kann dabei recht schnell variieren, entsprechend schnell muss die Frau reagieren können.
    • Das schnelle anspannen ist z.B. bei Verdoppelungen in der Milonga sehr wichtig.
    • Es ist keine gute Strategie, einfach generell die Spannung hoch zu halten. Das ist einerseits anstrengend, andererseits verliert man dabei an Sensibilität.
  4. Rahmen
    • Beide sind dafür verantwortlich, einen stabilen aber flexiblen Rahmen zu halten. Die Arme also entspannt aber nicht schlaff halten.
    • Frauen halten im rechten Arm den Rahmen oft nur gegen Druck aufrecht, aber nicht oder zu langsam gegen Zug. Darauf bitte besonders achten.
    • Frauen halten oft mit dem linken Arm nicht den Abstand stabil. Bitte den Daumen in der Regel an der Vorderseite des Oberarms halten. Situativ muss sie allerdings auch mit dem linken Arm auf den Rücken des Mannes rutschen, wenn es die Figur verlangt, z.B. wenn beide Partner rechtwinklig zueinander stehen.
  5. Übung mit plötzlicher Kompression Sie tanzt rück-Ocho nach rechts in eine halbe Molinete .r rück .l ran .r vor, dann Kompression (d.h. starkes aber weiches Abdrücken mit den Armen) und er schickt sie auf gleichem Weg wieder zurück und wieder hin, er streckt den rechten Fuß dabei nach rechts und dann nach vorne. Das Timing ist (1) .r rück .l ran L/4 (2) .r vor :l Platz :r ran R/4 (3) .l vor :r Platz :l ran (4) -r vor und raus. Sie spannt im entscheidenden Augenblick die Arme und die Bauchmuskulatur an. Man kann dazu gut von 1 bis 4 zählen, siehe Zahlen in Klammern.
  6. evtl Übung mit variierender Drehrichtungsänderung
    • Im Ocho im Pivot-Teil ändert der Mann die Drehrichtung der Frau mal plötzlich, mal ganz weich, mal langsam, mal schnell, mal einmal, mal mehrfach. Die Aufgabe der Frau ist es, die Spannung in den Armen, aber auch im Körper daran anzupassen.
  7. evtl Übung mit Wechsel von großen und kleinen Ochos
    • Der Mann führt große weiche Ochos im Wechsel mit kleinen zackigen Ochos. Die Frau passt wieder die Spannung in den Armen, aber auch im Körper daran an.
  8. Führungskanäle
    • Führungsimpulse können über verschiedene Kanäle gesendet werden. Ich unterscheide gerne vier Kanäle:
      • linke Hand des Mannes / rechte Hand der Frau
      • rechter Arm des Mannes Das könnte man noch in zwei Kanäle aufteilen.
        • rechte Hand des Mannes auf dem Rücken und der Seite der Frau
        • Kontakt rechter Unterarm des Mannes / linker Oberarm der Frau
      • linker Arm der Frau Konkret die linke Hand und evtl noch der Unterarm der Frau auf dem rechten Oberarm des Mannes.
      • visuell mit dem Oberkörper
        • Für diesen Kanal ist es natürlich notwendig, dass die Frau die Augen offen hat und es ist hilfreich, wenn sie dem Mann auf die Brust schaut.
        • Die Frau nimmt visuell natürlich noch mehr wahr, z.B. die Füße des Mannes. Das führt jedoch in die Irre, sobald der Mann dissoziierte Bewegungen führt, und deshalb sollte sie sich bei fortgeschrittenen Tänzern lieber nicht darauf verlassen.
  9. Richtung der Führungsimpulse
    • Im Prinzip können bei jeder Kontaktfläche Führungsimpulse in jede Richtung gegeben werden, jedoch werden sie unterschiedlich gut wahrgenommen. Konkret bedeutet das für die vier Kanäle folgendes.
      • linke Hand des Mannes / rechte Hand der Frau
        • Damit lassen sich wegen der umeinander geschlossenen Hände im Prinzip alle Richtungen und Drehungen führen. Wegen des langen Hebels vielleicht besonders gut alle Drehungen und Neigungen zur Seite und lineare Bewegungen entlang des Arms.
      • rechter Arm des Mannes
        • Mit der rechten Hand kann der Mann die Frau gut nach links und auf sich zu führen, etwas weniger gut auch nach rechts, indem er entweder einen festen Kontakt mit dem Schulterblatt herstellt, z.B. bei Colgadas, oder den Kontakt mit dem Oberarm der Frau ausnutzt, wozu weniger Kraft nötig ist.
        • Rückwärts (von sich weg) kann der Mann die Frau mit der rechten Hand kaum führen (er hat schließlich keine Saugnäpfe an der rechten Hand). Im Prinzip kann die Frau natürlich nachlassenden Druck spüren, aber das würde zunächst mal einen spürbaren Dauerdruck erfordern, was ich nicht so schön finde, und außerdem ist das recht subtil und tendenziell langsam.
      • linker Arm der Frau
        • Da die Hand der Frau den Oberarm des Mannes umfasst, kann die Führung im Prinzip in alle Richtungen erfolgen. Wieder wegen des langen Hebels geht das aber besonders gut für Drehungen und lineare Bewegungen entlang des Arms, also vorwärts und vor allem rückwärts (von der Frau aus gesehen).
      • visuell mit dem Oberkörper
        • Mit dem Oberkörper lassen sich im Prinzip alle Richtungen führen, besonders leicht aber zunächst mal lineare Bewegungen und Neigungen.
        • Drehungen sind aus zwei Gründen etwas problematisch.
          • Zum einen können nur gemeinsame Drehungen geführt werden, eine Damensolodrehung z.B. nicht.
          • Zum anderen ist es nicht leicht, eine Drehung der Frau um den Mann, eine Drehung um die eigene Achse und ein Aufklappen des Paares in eine Promenadenposition zu unterscheiden.
  10. Arten von Führungsimpulsen
    • Es gibt verschiedene Arten von Führungsimpulsen
      • linear vor/zurück/seit
      • drehend links/rechts
      • heben/senken
      • Neigen in alle Richtungen
      • anspannen/entspannen
    • Außerdem kann die Dynamik variieren
      • gleichbleibend
      • beschleunigend
      • verzögernd
  11. Übung zum Nachfühlen des Gesagten
    • Zu Musik tanzen und sich die verschiedenen Kanäle, die Richtungen und die verschiedenen Arten von Führungsimpulsen bewusst machen.
  12. Führungsimpulse vs Bewegungshilfen
    • Ich unterscheide gerne zwischen Führungsimpulsen und Bewegungshilfen. Erstere können minimal sein, letztere müssen tatsächlich das Gewicht der Frau halten/bewegen und müssen entsprechend stark sein. Beispiele für letztere: Colgada, Volcada, schnelle Drehungen, schnelle gegenläufige Bewegungen.
  13. Klare sanfte Führung
    • Im Gegensatz zu Bewegungshilfen können Führungsimpulse minimal sein, da die Frau sich ja komplett aus sich selbst heraus bewegt, es also nur darum geht, ihr die Bewegungsrichtung mitzuteilen.
    • Da verschiedene Bewegungsrichtungen in Frage kommen, hat gute Führung viel damit zu tun, gut unterscheidbare Impulse zu geben.
    • Die Unterscheidbarkeit verschiedener Führungsimpulse kann aus verschiedenen Gründen leiden.
      • Rauschen Wenn ich z.B. beim schlichten Geradeausgehen bereits hin und her wackel und meine Hände unkontrollierte Bewegungen machen, dann ist es für die Frau schwer, in diesem Rauschen noch einen bewussten Führungsimpuls auszumachen. Wenn dagegen das Geradeausgehen ganz gleichmäßig und gerade erfolgt, dann reicht ein minimaler Impuls, um z.B. ein Kreuz zu führen.
      • Kraft In der Psychophysik ist das sogenannte Fechner'sche Gesetz bekannt, wonach die Unterscheidbarkeit von sensorischen Impulsen (z.B. Licht, Ton, Druck) proportional zu deren Intensität ist. D.h. bei schwachen Impulsen kann ich kleine Unterschiede wahrnehmen, bei starken Impulsen kann ich nur große Unterschiede wahrnehmen. Das ist der Grund weshalb starke Impulse nicht die Klarheit der Führung verbessern, sondern in der Regel nur die Frau verärgern, weil sie sich gedrängt fühlt und sie aus der Achse gebracht wird.
      • Inkohärenz Die verschiedenen Kanäle vermitteln unterschiedliche Führungsimpulse, z.B. die linke Hand vermittelt eine Drehung während der Oberkörper eine lineare Bewegung vermittelt. Das verunsichert die Frau und führt zu einer unklaren Führung.
  14. Übung gegen das Rauschen und die Kraft
    1. Auf den Spiegel zu gehen und dabei darauf achten, dass sich der Oberkörper und die Arme ganz gleichmäßig und geradeaus bewegen.
    2. Ins Paar gehen, ganz gleichmäßig vierspurig geradeaus gehen und versuchen, mit minimalen Führungsimpulsen ins Kreuz zu führen. Die Frau macht die Bewegung des Kreuzes ganz alleine. Ab und zu macht der Mann ein Kreuz, ohne bei der Frau eines zu führen, er muss also ganz ruhig dabei bleiben. Beide können auch die Augen schließen und ganz langsam tanzen.
  15. Kohärente Führung
    • Unter kohärenter Führung verstehe ich eine Führung, bei der auf allen Kanälen miteinander stimmige Führungsimpulse gesendet werden, die sich für die Frau zu einem eindeutigen, widerspruchsfreien Ganzen zusammen fügen. Dies ermöglicht wiederum eine sehr sanfte und gleichzeitig schnelle Führung, weil bei der Frau nicht wertvolle Zeit mit dem Lösen von Widersprüchen verbraucht wird.
    • Eine gute Möglichkeit, die Kohärenz der Führung zu verbessern, besteht darin, die Kommunikationskanäle zu reduzieren, im Extremfall auf einen einzigen.
    • Da jeder der vier Kanäle verwendet oder weggelassen werden kann, ergeben sich insgesamt 2*2*2*2=16 Kombinationen, von denen eine nicht sehr vielversprechend ist (aber interessant sein könnte), nämlich gar keinen Kanal zu verwenden.
    • Es ist sehr instruktiv mit diesen verschiedenen Kombinationen zu spielen. Zum Beispiel:
      • Wenn die Frau ihren linken Arm weg lässt, so lernt sie, sich nicht am Partner abzustützen oder an ihm zu ziehen (ein weit verbreitetes Problem), sondern die Achse selber zu halten und Beschleunigungen aus sich selbst heraus zu tanzen.
        • Wenn der Mann dabei seinen rechten Arm weg lässt, lernt die Frau dieses sogar noch mehr. Der Mann lernt, mit der Dynamik der Bewegung zu führen.
        • Wenn der Mann dabei seinen rechten Arm benutzt, kann ihm das vermitteln, sich gut um die Achse der Frau zu kümmern.
      • Wenn der Mann seinen rechten Arm weg lässt, die Frau aber ihren linken benutzt, so kann ihm das insbesondere zeigen, dass er nicht mit der rechten Hand die Frau schieben und ziehen muss (ein weit verbreitetes Problem), um sie zu führen. Sie kann die Bewegungen sehr gut an den anderen Kanälen abspüren, z.B. mit ihrem linken Arm auf seinem rechten Oberarm, und sich dann selber bewegen. Die rechte Hand des Mannes braucht die Frau in der Regel nur zu begleiten.
      • Wenn beide ganz ohne Körperkontakt tanzen, lernt der Mann, mit dem Oberkörper zu führen, d.h. insbesondere mit der Neigung und mit dem Timing. Die Frau lernt, diese Führung zu lesen.
      • Auch alle anderen Kombination können interessant und als Übung nützlich sein.
  16. Übung mit verschiedenen Kombinationen
    • Der Reihe nach mit den verschiedenen Kombinationen von Kanälen tanzen und wahrnehmen, z.B.
      • wie sich damit das Tanzen anfühlt,
      • welche Figuren geführt werden können, welche nicht, und
      • was mit der eigenen Achse passiert.
  17. Zusammenführen der verschiedenen Führungserfahrungen
    • Natürlich ist die Führung mit allen Kanälen nicht einfach die Summe der Führungsimpulse, die man mit jedem Kanal einzeln verwenden würde. In der Regel reichen in Kombination viel schwächere Impulse und man kann die Stärken der verschiedenen Kanäle sich ergänzen lassen.
    • Dennoch kann man mit obiger Übung sehr gut lernen, wie jeder einzelne Kanal funktioniert, und das dann zu einer kohärenten Führung integrieren.
  18. Führung mit dem Oberkörper
    • Die Führung mit dem Oberkörper ist so etwas wie der Heilige Gral des Tango Argentino.
    • Sie ist in der engen Tanzhaltung die wesentliche Methode, weil der Brustkontakt dominant ist.
    • In der weiten Tanzhaltung ist das anders. Wenn die Frau die Augen geschlossen hat, dann wäre in der weiten Tanzhaltung die Bewegung des Oberkörpers eigentlich völlig irrelevant. Jedoch erleichtert die Führung vom Oberkörper aus eine kohärente Führung, weil sie einem hilft, die Arme kohärent zu bewegen.
    • Wenn die Frau die Augen offen hat, dann ist der Oberkörper natürlich ein weiterer Kanal, über den geführt wird, und dann sollte er sich erst recht kohärent bewegen.
    • Letztlich sollte die Bewegung tatsächlich aus dem Zentrum heraus kommen.
  19. Führung mit der linken Hand
    • So wie es immer heißt, man müsse vom Oberkörper her führen, so heißt auch, dass man die linke Hand nicht benutzen darf.
    • In der engen Tanzhaltung ist die linke Hand tatsächlich nicht sehr aktiv.
    • In der weiten Tanzhaltung allerdings halte ich auch die linke Hand für sehr wichtig und für einen potenten Kommunikationskanal. Wenn man sich Videos von hochrangigen Tango-Tänzern anguckt, sieht man auch, dass sie regen Gebrauch von der linken Hand machen.
    • Allerdings sollte die Bewegung trotzdem vom Oberkörper her kommen, also bitte nur in Ausnahmefällen (z.B. Damensolodrehung), einfach nur den linken Arm benutzen. Im Normalfall sollten die Bewegungen der linken Hand relativ zum Oberkörper minimal sein, sie sind dennoch sehr informativ.
    • Einen großen Vorteil der linken Hand sehe ich darin, dass man damit der Frau Bewegungen vorschlagen kann, ohne sie zwingen zu können. Mit der rechten Hand kann man die Frau, ob sie will oder nicht, zur Seite schieben oder zu sich hin ziehen (das passiert leider allzu häufig). Ich persönlich fühle mich meist genötigt, wenn jemand mich so führt, und finde das sehr unangenehm. Bei der linken Hand hat die Frau im Gegensatz dazu eigentlich immer die Wahl, den Rahmen stabil zu halten und dem Impuls zu folgen oder einfach mit ihrem rechten Arm nachzugeben, was dem Mann unmittelbar deutlich macht, dass die Frau da nicht mehr hinterher kommt oder möchte (oder sie hat nicht gelernt, den Rahmen zu halten, was ein anderes Problem ist, siehe oben).

Autor: Laurenz Wiskott

Created: 2024-08-24 Sat 12:16

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