Friedenskirche
1. 9. 1985; Auferstehungskirche 15. 9. 1985
Lieder:
254, 1, 4, 6;
277, 1,
3, 5; 244,
1 + 3; 159,
1 - 3
Ein
Theologe fragt einen Laien (Jesus) nach dem ewigen Leben.
Komischerweise
nicht umgekehrt. Jesus, von einem reichen jungen Mann nach dem Weg zum
ewigen
Leben befragt, empfiehlt die Armut. Immer sieht es nach radikalen
Lebensänderungen
aus. Tut Busse! So ist der Tenor seiner Verkündigung.
Ändert euch und euer
Leben!
Es
gibt ein Streitgespräch. Jesus soll blamiert werden,
intellektuell
geschlagen werden. Jesus verweigert sich oft haarspalterischen
Diskussionen.
In
diesem Fall weiß der Theologe genau, was er vorgeblich von
Jesus
wissen will. Darum fragt Jesus zurück: Was steht denn im
Gesetz, also den Mose
Büchern. Der Theologe bringt, dumm ist ja nicht, das ganze
Gesetz der Juden,
alle 623 Einzelvorschriften der fünf Bücher Mose, auf
diesen einen Punkt: Gott
über alles lieben und den Nächsten wie man sich
selbst liebt. Er zitiert
Deuteronomium 6,5, das berühmte jüdische Gebet Schema
Israel. Markus bringt
dieses Zitat ausführlicher. Zweites Zitat: Leviticus 19, 18.
Es ist der Satz
aus dem Heiligkeitsgesetz, in dem die Rache verboten wird und
stattdessen
Solidarität mit den Volksgenossen geboten ist. So wurde
Nächstenliebe zu allererst
verstanden. Gottesliebe und Nächstenliebe, das ist der Kern
des Gesetzes der
Juden. So versteht es der Theologe, und Jesus pflichtet ihm bei.
Unnötig heute
noch zu sagen, daß sich die Liebe zu Gott darin erweist, ob
wir andere Menschen
lieben. Gott lieben heißt Menschen lieben. Mit besonderer
Vorliebe für Schwache.
Wer
so lebt, Gott lieben, indem er Menschen liebt, der wird das ewige
Leben haben. Darin sind beide einig. Was heißt ewiges Leben?
Endlos,
unsterblich Leben durch Nächstenliebe? Falsch. Ewig, Jesus,
meint: Leben mit
der Qualität der neuen Welt Gottes, die damals alle erhofften
und erwarteten.
Jesu Botschaft war: diese neue Welt Gottes steht direkt vor der
Tür. Jeden
Augenblick kann es donnern und krachen und dann wird sich die Welt ins
Reich
Gottes verwandeln, zu einer neuen, besseren Welt werden, ohne
Haß, ohne Waffen,
ohne Tränen. Und die Frage des Theologen an Jesus: wie wird in
der neuen Welt
Gottes gelebt? Gibt es Besonderes zu beachten? Neue Regeln? Revolution?
Lehrt
Jesus vielleicht Irrlehren, so daß man ihn anzeigen sollte?
Und die Antwort,
die Jesus gibt, heißt: nach dem Gesetz der Juden, nach den
fünf Büchern Mose
oder kurzgefaßt, nach den 10 Geboten leben. Jesus sagt damit
nichts
revolutionäres, nichts neues. Er ist konservativ. Er
appelliert an die Tora. So
wie viele heute ans Grundgesetz appellieren. Wer die 10 Gebote
hält, die man
alle auf den Begriff Gottesliebe durch Nächstenliebe bringen
kann, der lebt so,
wie man in Gottes Welt leben wird, der erfüllt Gottes Willen.
Jesus
sagt: tue das, so wirst du leben! Nicht: so
bekommst du ewiges
Leben. Nein: so wirst du leben. Das bedeutet umgekehrt, wer nicht auf
Nächstenliebe hin lebt, der lebt gar nicht. Den kann man zu
den Toten zählen.
Der zählt nichts für Jesus. Heute könnte man
noch radikaler sagen: wenn wir in
der Welt nicht mehr Liebe fertig bringen (zur
Natur, zu Feinden, zu
Volksgenossen und zu den Schwachen), dann werden wir die Erde
zerstören und uns
mit dazu.
Der
Theologe ärgert sich, weil er den gesuchten Streit mit Jesus
noch
nicht gefunden hat. Noch sind beide sich einig. Noch hat der Theologe
nichts Ärgerliches
von Jesus gehört, und das ärgert ihn noch mehr! Darum
fragt er weiter, möchte
sich mit Jesus über die Definition von "Nächster"
streiten. Wer ist
alles Nächster im Sinne des Heiligkeitsgesetz ist und wer
nicht? Wen muß man
lieben, wen darf man hassen? Eine typische Juristenmentalität.
Jesus ist kein
Jurist. Jesus antwortet mit einem Gleichnis. Er erzählt eine
Geschichte, die
eben nicht definiert, wer alles nächster ist, sondern in-finiert,
die
Grenze zwischen Nächster und Nicht-Nächster aufhebt.
Im Heiligkeitsgesetz war
es nur der Volksgenosse. In der Geschichte Jesu aber wird zum
Nächsten einer,
der er ein Feind ist.
Juden
und Samariter waren Feinde. Die Volksgenossen, die nächsten im
Sinne des jüdischen Gesetzes, gehen am Opfer des
Raubüberfalls vorbei, nicht
gnadenlos, sondern weil sie ihn für tot halten und das Gesetz
die Berührung und
Nähe zu Toten verbietet. Die Volksgenossen bleiben fern,
obwohl sie nächste
sind laut Gesetz. Der Samariter, ein Kaufmann auf dem Wege ins
Westjordanland,
verarztet den Überfallenen und kümmert sich um seine
Heilung. Er hat kein
Gesetz, was ihm die Nähe zu bestimmten Leuten verbietet. Er
kann sich näher
leisten. So wird er zum Nächsten. Gibt es im
jüdischen Gesetz die Grenze von Nächsten
und Nicht-Nächsten, Volksgenossen und Ausländern,
Freunden und Feinden, also
starre eingefahrene Rollen; bei Jesus wird offensichtlich, wie
lächerlich und
unsinnig diese Unterscheidungsversuche sind. Die Unterscheidung einer
Gruppe
von Menschen, die man lieben soll und einer anderen Gruppe, die man
nicht
lieben braucht, ist absurd. Gottes Wille ist, das Liebe unteilbar allen
Menschen gilt. Auch den Bösen! Und wer wirklich Gott liebt,
dessen
Freundlichkeit und Barmherzigkeit hört nicht vor denen auf,
die er nicht leiden
kann.
Die
Liebe Gottes in den Herzen der Menschen überschreitet Grenzen
wie
Volk, Zuständigkeitsbereiche oder andere Gruppen Egoismen.
Gottes Liebe ist
internationalistisch, verbindet die Völker miteinander, die
Rassen, die
Interessengruppen. Die Liebe ist nicht eine Verbindung um der
Verbindung
willen, sondern um des Wohlergehens aller willen. Der
Überfallene soll wieder
gesund werden.
Es
ist also nicht die Frage: wer ist mein Nächster? Um wen
müssen wir
uns als Christen demnach alles kümmern? Sondern: wem werde ich zum Nächsten? Auf
wen will ich mich einlassen,
wieviel Nähe lasse ich zu. Wieviel Nähe kann ich
ertragen ohne Angst vor Vereinnahmung.
Nur wer nicht Angst hat, er könnte freßbar sein,
kann Nähe ertragen. Nur wer
gewiß ist, sich nicht zu verlieren, kann seine Aufmerksamkeit
und Tatkraft
anderen schenken. Nur wer sich selbst nahe ist, braucht nicht zu
fürchten um Selbstverlust,
wenn er anderen nahekommt. Nur wer keine Angst hat,
zurückgewiesen zu werden,
kann anderen nahe kommen.
Die
Kraft, Nächster zu werden, ist die Kehrseite der Kraft der
eigenen
Persönlichkeit. Es ist der Mut, sich hinzugeben mit der
Hoffnung, sich in der
Nähe zum anderen neu zu empfangen. Amen.