Liebe Gemeinde!
"Verwüstung abgewendet von diesem Ort und Land. Keine
Verwüstung abgewendet von Äthiopien, von Bhopal,
Nicaragua." Wir sind so einigermaßen über die Runden
gekommen. Was alles dieses vergehende Jahr geschehen ist! Wir haben es
schon fast vergessen. Es ist schon fast so, als ob es immer so gewesen
ist. Unzählige Wohltaten haben wir uns zu Gemüte
geführt. Denken wir daran, wie das so geht: Zuerst wollte man
es kaum wahrhaben, wie führende Politiker von
führenden Firmen Schmiergeld-Wohltaten in
Millionenhöhe bekommen. Wie sie es ableugnen, uns allen
Ernstes glauben machen, sie hätten nichts damit zu tun, wie es
ihnen am nächsten Tag bewiesen wird, wie sie ihr Amt
niederlegen. Anfangs waren wir noch alle empört. Anfangs
sagten wir noch: das darf nicht sein! Aber haben wir uns nicht
inzwischen daran gewöhnt? Will uns nicht die Presse langsam
erzählen, sowas sei doch ganz normal, wenn so viele geschmiert
werden, auch Journalisten, dann sei doch nichts dagegen einzuwenden?
Anfangs waren wir entsetzt, als die Arbeitslosenzahl über die
Millionengrenze stieg. Wir trauten der damaligen Regierung nicht zu,
damit fertig zu werden. Die jetzige Regierung ist damit fertig
geworden. Sie hat es geschafft, uns den Eindruck zu wecken, 2,3
Millionen Arbeitslose sei doch gar nicht so viel, wie man eigentlich
erwartet hatte, eigentlich sowieso gar nicht so viel, ja was sind schon
2,3 Millionen, wo doch alle Zahlen rekordhaft anwachsen. Die
Mietpreise, die Arbeitslöhne nicht ganz so schnell, die
Ladenpreise. Mit anderen Worten: Der grauenvolle Tierversuch mit dem
Gewohnheitstier Mensch hat zur Beruhigung aller Mächtigen in
allen Ländern ergeben: Ergeben schlucken die Menschen alles,
was ihnen als unabänderlich vorgesetzt wird: Peitsche und
Zuckerbrot.
Vor einem Jahr noch sagten wir: Das darf nicht sein. Heute sagen wir:
In Ängsten, aber wir leben. Mit Pershing 2, aber wir leben.
Mit fast drei Millionen Arbeitslosen, aber wir leben. Mit Hunger in
Äthiopien, aber wir leben. Und wir leben nicht schlecht. Mit
sterbendem Wald. Wir leben nicht schlecht. Was stören uns die
fehlenden Blätter an den Bäumen. Ist doch auch
praktisch: man braucht im Herbst kaum mehr laubharken.
Was uns inzwischen alles normal vorkommt! Ich war früher
eingefleischter Fahrradfahrer, fahre jetzt Auto mit
größter Selbstverständlichkeit und verpeste
die Umwelt. Wir sind Kompromisse eingegangen. Wir haben uns eben dran
gewöhnt. Das Übel gehört jetzt mit zur
Familie. Was soll man machen?
"Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten, du steinigst
die Boten, die Gott zu dir schickt." So sagt das Kind, das, wie Simeon
zu Maria sagt, "dazu bestimmt ist, viele in Israel zu Fall zu bringen
und viele aufzurichten. Es wird ein Zeichen sein, gegen daß
sich viele auflehnen, und so ihre innersten Gedanken verraten." Jesus
weint über die Stadt mit ihrem Fortschritt, ihrer
geschäftigen Betriebsamkeit, in der alles untergeht, was Gott
an Einspruch gegen den Betrieb einlegt. Wir denken an die Geburt dieses
Mannes zurück, der selbst von dem Betrieb Jerusalem
getötet wurde. Einmal mehr schlägt der Lauf der Dinge
einen Einspruch Gottes in dieser Welt nieder. Einmal mehr wird
unliebsamer Protest ausgeschaltet. Man fand sich damit ab. Im
nächsten Jahr schon war keiner mehr empört
über den Staat, der Gottes Sohn kreuzigt. "Jedermann sei
Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat." So beruhigt
der Apostel Paulus und hat ganz vergessen, daß diese
Obrigkeit Gottes Sohn gemordet hat. Mit der Zeit wächst Gras
über die Sache. Man gewöhnt sich an alles. Die
anfängliche Empörung ist einer beispielhaften Ruhe
und Ordnung gewichen. Keiner leidet mehr darunter, daß Jesus
hingerichtet ist. Es wird noch öfters erzählt. Aber
es hatte ja auch sein Gutes: "für unsere Sünden",
sagt Paulus. Damit wird der Skandal des ungerechten Mordes zur
christlich beliebten und allseits erfreulichen Erlösungstat
umgedeutet. Paulus weint nicht mehr über Jerusalem. Er
schimpft nur noch auf Hurerei und Freßsucht. Und wenn er
leidet, dann nur so allgemein, vom Schiffbruch bis zum Lachen der Leute
über seine eigene Verkündigung. Er versucht, es
leicht zunehmen. Er hat sich daran gewöhnt, das Leben ist
manchmal hart, aber es läuft immer irgendwie weiter. Wohin es
läuft?
Nicht alles als unabänderlich und ein für alle Male
hinnehmen, das ist unbequem. Wer würde heute noch ernsthaft
daran glauben, die Pershing II wird eines Tages wieder abmontiert?
Haben wir das gewollt, einen weiteren Baustein, der inzwischen fast
eingemauert ist, im Dom der Aufrüstung, zu setzen?
Jetzt redet er schon wieder über Krieg! So denken Sie, liebe
Gemeinde. "Er wird ein Zeichen sein, gegen daß sich viele
auflehnen." Jetzt klagt er schon wieder über Jerusalem und die
Schriftgelehrten. Weg mit diesem Störenfried! An Jesus ist das
unerbittliche Festhalten an der Güte Gottes gegen die
Machenschaften der Mächtigen so empörend,
daß man ihn tötet. Jesus will sich nicht
gewöhnen an diese Tatsache, daß Jerusalem nun einmal
Propheten tötet. Er kramt solche alten Vorkommnisse wieder aus
dem Archiv der Geschichte. Er vergisst nicht die vergangenen
Ungerechtigkeiten. Er findet sich nicht ab. Er leidet unter diesem Lauf
der Zeit, Lauf der Mächtigen, die über Leichen gehen,
Leichen in Bhopal, in Äthiopien, in El Salvador, in
Afghanistan und Chile, Südafrika und den Philippinen.
In all der Heiterkeit des morgigen Silvesterfestes, laßt uns
die Traurigkeit Jesu nicht vergessen, die nicht vergißt,
über wieviel Unrecht der Lauf der Zeit so unbarmherzig
hinweggeht. Lasst uns die Opfer nicht vergessen. Amen.