Gehalten
in Heeren am 13.2. 1983
Lieder:
214, 1, 2, 5; 471, 1 + 5 - 8; 337, 1 plus 3-5
Liebe
Gemeinde!
Zwei
Erzählungen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben.
Beim
Evangelisten Markus steht noch eine Geschichte vor dem Rangstreit der
Jünger um
die besten Plätze im Himmelreich dazwischen. Jesus sagt seine
Leidensgeschichte
an. Jesus heilt einen Blinden. Was hat das miteinander zu tun?
Vielleicht sehr
viel in einer Welt, in der unser kleines Leiden blind macht
für das große
Leiden der anderen und blind für das Leiden Gottes. Und darum
eben auch blind
für die Herrlichkeit Gottes.
Jesus
nimmt seine 12 Jünger zur Seite, teilt ihnen mit, was nicht
alle
wissen müssen, weil sie es nicht verstehen werden. Aber auch
die Jünger werden
es nicht verstehen. Jesus spricht im Verborgenen und sein Wort, sein
Sinn,
bleibt verborgen. Sie sind auf dem Weg nach Jerusalem. Der Stadt, die
Propheten
tötet. Der Stadt, über die Jesus weint. Der Stadt, in
der Jesus als
Befreierkönig, als Messias gefeiert wird und in der er zu Tode
gefoltert wird.
Es ist der letzte Marsch der Jesusbewegung. Dann werden sie sich
zerstreuen in
alle Winde.
Jesus
weiß, was ihm blüht, wenn er in die Höhle
des Löwen geht. Ihm blüht
der Tod, wie vielen Propheten vor ihm. Ihm blüht das neue
Leben Gottes, dass sich
durch keinen Tod, durch keine Folter töten lässt.
Jesus ist erblüht in diesem
neuen Leben Gottes, lebt so allein aus der Liebe Gottes heraus, dass
ihn die
Furcht vor Jerusalem, vor Folter und Tod, nicht mehr abschrecken
können. Vor
dem Mut Jesu versagt der Terror der Machthaber Judäas und
Roms. So wie viele
Propheten des Alten Testaments Zeugnis und Kunde von dieser Freiheit
Gottes als
Verheißung für die kommende Zeit gegeben haben, so
versteht Jesus sich als
Demonstrant der Freiheit der Kinder Gottes, einer Freiheit, die auch
kein Tod
zerstören kann. Was die Propheten ansagten: ein Mann, auf den
sie ihre Schuld häufen,
der zum Sündenbock und zum Bildschirm aller Wünsche
und Ängste wird: Fürwahr,
er nahm auf sich ihre Krankheiten und Dummheiten, ihre Wut und ihre
Sehnsüchte.
Er ließ sich ein in das Spiel der Masse, die ihre
Führer wählt und verwirft. Er
wurde zum Spielball ihrer Wünsche nach Freiheit und
Unabhängigkeit, er, der
Mann, der frei lebte. Man spielte mit ihm, man spielte ihm
übel mit. Jesus war
nicht so naiv, zu verkennen, worauf er sich bei diesem Spiel
einließ: ein Spiel
mit Todesausgang. Eine Art Gladiatorenspiel, wie später in den
Arenen Roms.
Jesus spielt von Anfang an nicht auf Gewinn hin. Er ist bereit zu
verlieren. Er
weiß und sagt: Wer sein Leben verliert, der wird es neu
gewinnen (Lukas 17,33).
Unter dem Tod ist neues Leben verborgen. Unter dem Leiden ist die
Herrlichkeit
Gottes verborgen. Jesus liebt diese Verborgenheit. Darum kann er
verzichten auf
die Sichtbarkeit der Herrlichkeit Gottes. Darum beschränkt er
sich auf die
kleinen Zeichen, in denen nur für die Sehenden, Wissenden
einen Strahl des
Lichtes Gottes auf die Erde fällt. Gott will im Dunkeln
wohnen, und hat es doch
erhellt. So sieht Jesus sein kommendes Leiden unter dem Lichtblick der
Auferstehung, des neuen Lebens aus Gott, was frei macht von alle Angst,
die wir
haben.
Lukas
hat in dieser Leidensankündigung die früheste
Erzählung, den
knappsten Bericht über Jesus, der nach Jesu Tod damals wie ein
Gerücht von Mund
zu Mund durch die Lande ging, aufgenommen und ihn vor die
ausführliche
Berichterstattung von der Leidensgeschichte Jesu gestellt, um uns
deutlich zu
machen, dass Jesus bewusst sein ein Kreuz auf sich nahm, weil er
darunter die
Herrlichkeit Gottes wusste.
Ausgerechnet
der Blinde sieht, dass Jesus der Sohn Davids ist, also der
Nachfolger Davids, der ebenso die Freiheit für Israel bringt.
Der Blinde
kündigt Jesus schon bei Jericho, also noch eine ganze Strecke
vor Jerusalem,
als Befreierkönig an. Er sagt: Jesus, du Sohn Davids. Er
meint: Jesus, du unser
neuer Führer in die Freiheit. Er meinte sicherlich auch:
politische Freiheit
von Rom, wie es vor und nach Jesus immer wieder Messiasse gab, die mit
Gewalt
einen Unabhängigkeitskampf gegen Rom versuchten und verloren
haben. Der Blinde
sieht die Freiheit Jesu. Er sieht, aus welcher Freiheit Jesus lebt.
Welche
Freiheit er bringen kann. Gegen allen Anstand, gegen die guten
Mahnungen zur
Besonnenheit, gegen die Drohungen der Leute, die mit Jesus gehen,
schreit der
Blinde solange nach Jesus, bis Jesus ihn holen lässt und
fragt, was er will,
wie er das Erbarmen sich vorstellt. Und der Blinde sagt: Herr, dass ich
wieder
sehen kann. Dass ihm die Barmherzigkeit Jesu die Augen öffnet.
Und sie tut es.
Eigentlich hat der Blinde ja schon als Blinder mehr gesehen als die
anderen. Er
sah die Freiheit, die Befreiungsmacht Jesu. Die Macht, die frei macht
von Angst
vor Leiden, Folter, Tod; die Macht, die lebendig macht.
Gegenüber dem Blinden
war die ganze übrige, sehende Welt blind.
Sogar
die Jünger verstehen nur Bahnhof oder den großen
Sieg Jesu ohne
den Blick für die Tiefe der Leiden und der Verzweiflung, durch
die sie dabei
hindurch müssen. Sie sind naiv, weil sie nicht ahnen, was das
Heil Gottes
kostet, für Jesus selbst und für die, die ihm
nachfolgen. Sie sind noch nicht
bereit, zu verlieren. Darum können Sie auch nicht gewinnen.
Der
Blinde hat alles verloren. Er hat kein Augenlicht und er sitzt am
Straßenrand und bettelt. Hat kein Geld. Lebt von der
mangelhaften
Barmherzigkeit der Vorübergehenden. Wie mangelhaft die ist,
zeigt sich darin,
dass sie ihm nicht einmal ein Wort mit Jesus gönnen. So ist
der Blinde
eigentlich ganz verloren. Und in dieser Verlorenheit kann er eben alles
gewinnen. Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen. Weil der Blinde
verloren
ist, hat er den ungetrübten Blick für Jesu Freiheit.
Den anderen ist der Blick
verstellt durch die Sorge um all das, was sie haben und darum
möglicherweise
auch verlieren können. Was sie besitzen, macht sie blind
für Gott in dem
Menschen Jesus.
Der Blinde war blind für die
Welt. So konnte er Jesus sehen. Jesus zeigt ihm
die Barmherzigkeit Gottes, weil er Jesus vertraut und glaubt. Und
alsbald wurde
er wieder sehend. Jesus öffnet dem Blinden, der in seiner
Verlorenheit Gottes Freiheit
besser sieht als die Sehenden, seine Augen endlich auch für
diese Welt. Der
Blinde wird sehend für die Welt. Er wird sehen für
das Schöne der Natur und das
Schreckliche unter den Menschen. Und darum schließt er sich
der Jesusbewegung
an. Darum geht er mit Jesus, der Welt die Freiheit der Kinder Gottes zu
zeigen,
damit die Welt in ihrer Verlorenheit das neue Leben Gottes erkennt und
leben
lernt. Weil er es am eigenen Leib und im eigenen Leid erfahren hat,
drängt es
den sehenden Blinden, das allen zu zeigen. Er engagiert sich
dafür mit seinem
ganzen weiteren Leben.
Ich
glaube, jeder von uns ist der Blinde. Jeder von uns ist blind
für
die Verlorenheit der Welt. Jeder ist verblendet durch all das, was er
hat, zu
verlieren hat. Und erst, wenn wir unser Herz nicht mehr daran
hängen, wenn wir
merken, wie wenig wir sind, wie sehr unser wirkliches Leben nicht
gesichert ist
durch den Besitz, den wir haben, wenn wir existentiell wieder erleben,
dass wir
Bettler sind, ganz angewiesen auf fremde Gnade und Hilfe, ganz
angewiesen auf
Gottes Gnade und Hilfe, dann ist unser Blick klar für Jesus,
für die Freiheit,
die er hat und bringt. Dann können wir loslassen von Hab und
Gut und ganz mit
ihm mitziehen, ganz in seiner Nachfolge in der neuen Freiheit der
Kinder Gottes
gehen. Und dieser Weg führt uns zurück in die Welt,
aus der wir kommen, eine
Welt voller Schönheiten und Schrecken. Und wir sind in den
Spuren Jesu auf dem
Weg, die Schrecken dieser Welt zu bekämpfen mit den Waffen
Gottes, mit Klugheit
und ohne Falsch, mit Herzlichkeit, Barmherzigkeit und Liebe. Es gibt
genug zu
tun. Wer wirklich Bettler geworden ist, hat die Hände frei,
zuzupacken. Wer
wirklich sehend geworden ist, weiß, wo er mit anfassen muss.
Amen.